Als Annalena am vergangenen Freitag auf der Bundesdeligiertenkonferenz in Wiesbaden ihre flammende Rede hält und auch die Energie im Publikum immer stärker und lauter wird beim Thema „Stark werden für die Verteidigung der Freiheit und Demokratie“, da verstehe ich ab einem Punkt nicht mehr den Text und höre nur noch die „Melodie“.
Annalena redet sich mehr und mehr in Rage. Das Publikum jubelt. Ich höre Leidenschaft, höre und sehe in Annalena auch Bitterkeit, Zorn, Wut und kurze Momente der Überheblichkeit. Ganz plötzlich zieht es mir eiskalt über den Rücken. Die Melodie, diesen Sing-Sang habe ich schon einmal gehört. In meiner Kindheit. Mit etwas sehr gruseligen verbunden. Ich muss raus aus dem Stream und auf den Balkon. Was wurde da ausgelöst in mir ?
Diesen Abschnitt bitte ich nun mit großer Sorgsamkeit zu lesen, damit er nicht übereilt falsch gelesen wird. Ich finde es selbst krass, welche Verbindung zwischen Annalena und der sehr gruseligen Erinnerung des Kindes in mir hergestellt wurde. Unbewusst, wie solche Erleben sind. Diese Art von „Melodie“, dieser Singsang einer feurigen Rede bei jubelnden Publikum habe ich auf den Schallplatten von Hitlers Reden meines Vaters gehört. Krass. Schockmoment. Abgesehen von der „Melodie“ gibt es selbstverständlich 0 inhaltliche Verbindungen und Assoziationen zu Annalena und Hitler. Allein die Vorstellung ist wirr.
Mein Vater hörte diese Schallplatten, weil er verstehen und verarbeiten wollte, in was er da als Teenager geraten ist…was da eigentlich passiert ist, wie das nur sein konnte. Als Teenager in Hitler´s Krieg eingezogen, in den zweiten Weltkrieg. Als 19jähriger für die nächsten fünf langen Jahre als Kriegsgefangener in Russland. Nach der Rückkehr Berg- und Straßenbau im Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands. Mehr und mehr vor seinem Tod vor jetzt schon langer Zeit nahm er sich Zeit für eine Verarbeitung. Unter anderem über das Hören von Hitlers Reden. Er stand nie hinter der Nazi Ideologie. Er wurde als Teenager einfach eingezogen in den fanatischen Kampf und tief traumatisiert. So kam es in seiner Verarbeitung dazu, dass ich als Kind diese gruselige Stimme hörte, diese Art der Rede, das jubelnde Volk, diese Melodie, an die ich mich spontan und nicht bewusst auf Annalenas Rede erinnert fühlte.
Nun ist Annalena als leidenschaftliche kraftvolle, engagierte Frau und Mutter in einem wahnsinnig schweren Beruf unterwegs. Als Außenministerin kommt sie wöchentlich in der ganzen Welt auch mit den übelsten, gewalttätigsten, menschenverachtendsten Exemplaren von primär Männern in Kontakt. Erlebt im Kontakt mit den Menschen der Länder die Auswirkungen ruchloser Herrscher auf Kinder, Frauen, Mütter, Väter, Familien, Menschen unterschiedlichster Identität in den Regionen. Ich glaube, das kannst du gar nicht ohne auch Wut, Zorn und einem brennenden Wunsch, diese Art von Herrschaft notfalls auch mit militärischer Stärke zu beenden und die Verteidigung der Angegriffenen selbst so lange zu verteidigen, wie es nötig ist.
Aus meinem unerwarteten „Schockmoment“ ist also Verständnis erwachsen und Differenziertheit. Zugleich beobachte ich in mir noch offene Punkte mit „Den Grünen“, die ich vor meiner möglichen Bundestagswahl-Stimme klären muss.
Ich sorge mich noch um eine zunehmende, militarisierte Polarisierung der „Freien Demokratischen Länder“ vs. „Autokratien und Autoritäre Regime“ in einem simpel gehaltenen Dualismus. Wir nehmen uns da aus meiner Sicht noch zu selbstverständlich als die natürlich „Gute Kraft“ der Welt. Freiheit und Demokratie selbstverständlich als die überlegene und reifste Form des Miteinander Lebens.
Ich wünsche mir da mehr Selbstreflexion auch für die Schattenseiten unserer Freiheit ohne Verantwortung, Demokratie als subtile Übermächtigung eines hedonistischen Volkes. Freie Märkte als manisch ewige Wachstumsmärkte auf dem Rücken von billig produzierenden Menschenländern dank weniger Sozial und Ökostandards. Denn Leben muss halt gut und günstig für die freien Länder sein. Viel mehr als genug für Alle mit einer unglaublich breiten Produktpalette. Ein Großteil davon so klimaschädlich, dass „die Entwicklungsländer“, in denen unsere Demokratien produzieren lassen in Not geraten und autoritäre Systeme übernehmen im Überlebensmodus. Das sind dann „die Bösen“ und wieder schauen wir weg von uns. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, wie groß die Wut auf uns selbst getaufte „freie, demokratische Länder“ in der Welt sein muss, wenn sie auch auf solchen verantwortungslosen Fundamenten beruht.
In einer Friedenspolitik sollten wir auch sehr genau auf uns schauen. Unsere Lebensweise nicht mehr als die edelste Form krönen, uns als „die Guten“ und die anderen als „die Bösen“. Diese Bescheidenheit könnte bei Friedensverhandlungen, in der De-Eskalation, in der Diplomatie, in den Zugeständnissen hilfreich sein.
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